Jedes Jahr, mit dem Monat November, kommt für mich der magische Moment der Poesiezeit in der 10.
Magisch? Warum?
Es ist der besondere Moment, in dem eine ganze Klasse vollständig in die Sprache eintaucht, und jedes Jahr geschieht das Wunder: Ich sehe, wie jeder nach und nach der Schönheit und Richtigkeit eines Textes erliegt oder von einem Moment der Gnade erfasst wird, in dem er seine "Stimme" als Dichter findet... Dieser Moment kommt manchmal sehr spät, manchmal hat er schon stattgefunden, aber er kommt fast immer zustande. Fünfzehn Jahre: Welches Alter wäre besser geeignet, um diese Entdeckung zu machen?
Es ist immer ein Genuss, mit der Diktion verschiedener Texte zu beginnen, die stark oder unerwartet sind. Es passiert etwas. Ein besonderes Zuhören, eine besondere Qualität der Stille: Die Engel kommen vorbei. Und dann gibt es den Moment, in dem man durch das Spiel die völlige Freiheit der Poesie auf die Spitze treibt, nicht nur in Bezug auf sprachliche Codes, sondern auch in Bezug auf die Realität. Man dreht ihr den Hals um. Man "baruffle les ouillais", wie Michaux sagen würde. Man rechnet mit ihm ab: Der Dichter hat das Sagen. Die leere Seite ist seine Spielkonsole: Er verwandelt die Welt nach seinem Willen, mit Metaphern, Oxymoronen, Neologismen und der Sprengung von Bedeutungen.
Nach diesem betrunkenen Ausflug in den Wortwahnsinn folgt das Schreiben von Haikus: eine weitere gesegnete Zeit, in der wir, diesmal der Natur lauschend, das winzige Detail mit der vorsichtigsten Zartheit erforschen. Und in diesem Moment berühren wir mit der Spitze der Bleistiftmine ein wenig, was die Macht eines einzigen, einfachen und gewöhnlichen Wortes ist, das allein durch die Tatsache, dass es auf der Seite isoliert ist, seine ganze evokative Kraft wiedererlangt. Und dann variiert man die Freuden: Klangzwänge, die Zwangsjacke des Sonetts, der Anapher, des reichen Reims... oder völlige Freiheit, getragen von einem der "Sprungbretter", die die gemeinsam erlebten Momente im botanischen Garten oder in den Bains des Pâquis vor einer wohlverdienten heißen Schokolade darstellen...
Schließlich muss man sich entscheiden: Welchen Text soll man aus der persönlichen Anthologie auswählen? Welches Gedicht soll beim Poesieabend dem Publikum vorgetragen werden? Wie soll es vorgetragen werden? Wie seinen eigenen Rhythmus erklingen lassen? Seine Farben schillern lassen? Wie kann man den Körper zum Schweigen bringen, um diesem Wort seinen Platz, seinen ganzen Platz, zu geben?
Dies ist der spannende Weg, den diese Zeit darstellt. Spannend, aber schwierig, denn über das Erlernen einer bestimmten künstlerischen Sprache hinaus geht es wie bei jeder kreativen Tätigkeit darum, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen: Wie kann ich die Welt sagen? Was ist mir eigentlich wichtig zu schreiben? Bin ich es, der schreibt, oder werde ich von jemand Größerem als mir geschrieben? Was sind "meine" Worte? Wer bin ich?
Und das ist das Wunder, die Magie: Vor seinen Augen zu sehen, wie Menschen ihre Sensibilität und ihr Gefühl der Existenz entwickeln, indem sie poetische Texte lesen, schreiben und sprechen.
VON CATHERINE MUGNIER, FRANZÖSISCHLEHRERIN